Wozu es gute Texte braucht

Von Mirja Stöcker
"Rechtschreibung gehört nicht zu den gravierenden Problemen der Bildungspolitik", sagte unser baden-württembergischer Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Jahr 2020. Wer nämlich heute mit h schreibt, ist also bloß ein vertrauensvoller Mensch, weil er sich auf die Autokorrektur verlässt? Das klingt, als seien gute Texte bloße Oberflächenpolitur. Ob das stimmt?

In gute Texte zu investieren lohnt sich. Vielleicht umso mehr, da der gesellschaftliche Trend, verkörpert durch hochrangige Politiker, die Investition in sprachliche Bildung immer weniger für nötig hält. Da ergibt sich doch sogleich Differenzierungspotenzial für Unternehmen, denen es noch wichtig ist verstanden zu werden. Drei Gründe, warum es gute Texte braucht:

  • Gute Texte und eine klare Sprache machen geniale Ideen und Produkte erst kommunizierbar.
  • Guter Text hilft Wort für Wort, unternehmerische Gedanken auf die Welt zu bringen. Gerade die, derer Sie sich noch gar nicht bewusst sind.
  • In einer immer komplexeren Welt können immer spezialisiertere, vielschichtigere Ideen und Konzepte nur dank guter Texte mitgeteilt und verstanden werden.

 

"Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken"

Erlauben Sie mir heute ausnahmsweise einen kleinen philosophischen Spaziergang. Das ist zwar nicht das, was Sie in einem Texter-Blog erwarten. Aber mal ehrlich: Die Einlassungen von Herrn Kretschmann laden zu einer intellektuellen Ohrfeige ein, finden Sie nicht auch? Legen wir los:

Platon bezeichnete das Denken als das innere Gespräch der Seele mit sich selbst. Durch Sprache wird man sich selbst also erst klar, was man denkt. Vielleicht befand Friedrich Dürrenmatt deshalb: «Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken». Jedenfalls machen Dichter und Wissenschaftler, obwohl ihr Denken reichlich unähnlich ist, immer wieder dieselbe Erfahrung: Auch der genialste Gedanke ist erst fertig, wenn man ihn in seiner kürzesten und klarsten Form auf den Punkt gebracht hat. Nun ist er außerdem kommunizierbar geworden. Das Ergebnis: Ein guter und lesbarer Text. Und was brächte der genialste Einfall ebenso wie die genialsten Produkte oder Dienstleistungen, wenn man sie nicht in ihrer ganzen Genialität kommunizieren könnte?

Wie guter Text Gedanken auf die Welt bringt

Daher ringen alle Kreativen in der Welt – seien es nun Dichter, Wissenschaftler, Unternehmer oder Gründer oft monatelang mit Worten. Klar, sollen gute Texte das Ergebnis sein. Manchmal ist das ein unfaires Ringen. Denn auch wer es im eigenen Fachgebiet oder der eigenen Branche zu Genialität gebracht hat, ist deswegen nicht unbedingt ein Sprachgenie – und die deutsche Sprache ist nun mal kompliziert. Aus diesem Grund halte ich es als Texterin mit Sokrates, der von sich selbst sagte, er sei eigentlich bloß die Hebamme für die Gedanken der Anderen. Erst zuhören und den Gedanken ertasten, der da gerade auf die Welt kommen will; dann Wort für Wort nachhelfen. Das ist sicher oft ein schmerzhafter Prozess – aber es ist wie bei einer richtigen Geburt: Drin bleiben ist auch keine Lösung.

Geniale Gedanken wollen geteilt werden

Wer Rechtschreibung, Syntax und Grammatik paukt und wer die Feinheiten von sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten und rhetorischen Figuren studiert, lernt aber noch etwas anderes: Einen Gedanken in einen verständlichen Satz zu bringen. Und nur sofern man in der Lage ist zu bemerken, dass der Satz noch nicht verständlich ist, kann man auch bemerken, dass der Gedanke noch geschärft werden sollte. Nicht selten machen die Urheber genialer Gedanken nach der Formulierung durch den Texter die überraschende Erfahrung, dass sie sich ihres eigenen Gedankens erst jetzt voll und ganz bewusst werden. Wenn das geschehen ist, haben Sie als Auftraggeber einen guten Text vor sich.

Die Vorstellung, in einer immer komplexeren Welt könnten immer spezialisiertere, vielschichtigere Ideen und Konzepte in zunehmend ungenauer Sprache mitgeteilt und verstanden werden, ist absurd. Leider legte Winfried Kretschman selbst kurze Zeit später ein etwas unrühmliches Zeugnis davon ab, als er Freiheitseinschränkungen während der Corona-Krise damit rechtfertigte, dass es nach dem Tod mit der Freiheit ja auch vorbei wäre. Hier erwiesen sich Denken und Sprache als deutlich unterkomplex.

Was lackierte Autos und gute Texte gemeinsam haben

Ähnlich, wie man kein halb lackiertes Auto kaufen würde, obgleich einem der Hersteller versichert, dass das Auto ganz sicher schön geradeaus fährt, ist es auch mit Sprache. Ein falsch gesetztes Komma oder ein Tippfehler werden den Sinn eines Satzes zwar nur selten völlig verzerren, aber die Sätze werden viel schwerer lesbar. Dann müssen die ohnehin mit Informationen überfluteten Leserinnen und Leser die Sätze mehrfach lesen, bis sie sie verstehen. Eine Hirnhälfte fragt sich, was denn nun gemeint sein könnte; die andere zweifelt, ob jemand, der in seinen Texten derart schludert, wirklich die besten Produkte bieten kann. Die Konzentration auf den Inhalt ist dahin.

Rechtschreibung ist keine unnötige Oberflächenpolitur. Sie gibt dem Text seine Geschmeidigkeit, damit nichts das Ankommen der Gedanken im fremden Hirn stört. Genial sein ist eine Sache – seine Ideen mitzuteilen oft genug eine andere.

 

Guter Text offenbart den guten Kaufmann

Und es gibt noch eine andere Dimension, auf die mich ein Kunde gerade hinwies: Ein mit Bedacht formulierter Text zeigt auch Wertschätzung, Ernsthaftigkeit und Leistungsbereitschaft. Eine E-Mail an Kunden "hinzurotzen" mag dem Zeitgeist entsprechen. Aber ist es der Beziehung angemessen? Sagt es vielleicht mehr über die dahinter liegende Arbeitseinstellung aus, als dem Urheber lieb ist? Und sparen wir wirklich Zeit und Geld, wenn wir erst schreiben und dann denken?

Gute Texte stehen für das Gegenteil: "Do it right the first time", wie wir im Marketing sagen. Das nämlich ist das Erfolgsrezept aller Qualitäts-Dienstleistungen. Dem Wirtschaftsstandort Deutschland wünsche ich jedenfalls, dass meine Generation nicht die letzte gewesen ist, die noch geradeaus schreiben kann.

31.08.2022